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indexicals - Aktuelle Veranstaltungen - Transdisziplinarität in Progression - Symposion 2005 - Referenten - Abstract Th. Pilz

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DISKUSSION:
Schönheit und Intelligenz der Trampelpfade

Voruntersuchungen zu einer Theorie des Schönen in der Architektur

Thomas Pilz
Architekt;
Graz, Österreich

Kurzfassung:

Trampelpfade entstehen aus einem komplexen Zusammenspiel von Spontanität und Wiederholung. Trampelpfade sind Fußwege, die von mehreren Personen (oder auch Tieren) unabhängig voneinander begangen und durch das wiederholte Begehen gebildet und geformt werden. Man kann eher den Aspekt der Wiederholung betonen (und den Trampelpfad als den unreflektiert und unbewusst oder gar willenlos begangenen Weg der Masse sehen) oder es kann der Aspekt der Spontanität in den Vordergrund gerückt werden (der Trampelpfad erscheint dann als Inbegriff des gefundenen Wegs und erhält erkenntnisartige Dimensionen): als Ausdruck des Ungeplanten verkörpern Trampelpfade das Realitätsprinzip von Vitalität (in der Unmittelbarkeit des Ausdrucks) und Funktion (Trampelpfade etablieren sich nur, wenn und weil sie ans Ziel führen); und sie erzählen von der Schönheit dessen, was durch die unaufhörliche Intelligenz des Gebrauchs geformt und ausgefeilt ist.

Das Phänomen der Trampelpfade wird im Rahmen dieser Untersuchung befragt und schrittweise differenzierter beschrieben. Verschiedene Aspekte des Phänomens werden dabei je nach Fragestellung unterschiedlich gewichtet; von zentraler Bedeutung ist das Phänomen des Trampelpfades als Fußweg, der sich unmittelbar neben oder geradezu gegen den geplanten (gebauten, ausgedachten) Weg etabliert. Am Phänomen der Trampelpfade werden zentrale Begriffe und Motive der Ästhetik und Architekturtheorie sichtbar; die Diskussion der Motive und Begriffe versteht sich als Vorstudie zu einer zeitgemäßen Theorie des Schönen in der Architektur.

    Die folgenden Themen werden diskutiert:
  • Der Trampelpfad als unaufdringliches Beispiel für den Topos der gefundenen Form; er erscheint als Korrektiv gegen das Ausgedachte, er artikuliert Kritik am vorgeschriebenen Weg; jenseits des Geplanten und jenseits von jeder individuellen Absicht bildet er seine Gestalt aus: präzise, individuell und schön. Trampelpfade können an ihren Rändern unscharf und ausgefranst sein; ihrer inneren Linie nach sind sie funktional extrem präzise. Ihre Gestalt ist von keiner ‚formalen’ Überlegung verfälscht.
  • Am Phänomen des Trampelpfades lässt sich das Motiv des absichtslosen Schönen rekonstruieren und befragen. Kein Trampelpfad wird im Bewusstsein oder mit der Absicht gebildet, etwas Schönes zu schaffen. Gehört die wahrnehmbare Schönheit der Trampelpfade der Sphäre des Kunstschönen an oder treten sie als Naturschönheit in Erscheinung?
  • Als Abdruck des Lebens, als Abbild des Bedarfs, als Zeichen, das in die Welt eingeschrieben wird: das Phänomen der Trampelpfade eignet sich als Untersuchungsmodell für die ästhetische Kategorie des Ausdrucks. Wo beginnt das Phänomen zu sprechen? Wovon erzählen die Trampelpfade? Was zeigt sich darin? Von der Deutung der Trampelpfade als Schrift spannt sich der Bogen bis zur Idee der Kunst als unbewusster Form der Geschichtsschreibung.
  • Schönheit und Individualität. Die schöne Gestalt, organisch geformt wie Knochen oder lange gebrauchte Werkzeuge, unübertragbar. Die Form von Trampelpfaden (wie von ‚wild’ entstandenen Fußwegen insgesamt) folgt keiner geometrischen Regel; und doch zeigt sich an ihnen eine innere Notwendigkeit, die unmittelbar Gestalt annimmt. Die formale Schönheit von Trampelpfaden ist individuell an einen Ort gebunden; er kann niemals von seinem Ort und seinen Funktionsanforderungen losgelöst werden, ohne seine Intensität zu verlieren. Die Übertragung der als schön empfundenen Form des Weges als Bild eröffnet das Themenfeld von Ornamentierung und Kitsch, Authentizität und der angemessenen Deutung des Organischen in der Architektur.
  • Die Aufgabe erkennen. Im ethischen Feld zeigt sich die phänomenale Relevanz des Trampelpfades durch seine brillante Unterwanderung des tradierten Verhältnisses von Aufgabe und Lösung, Motivation und Handlung, Ziel und Umsetzung, Möglichkeit und Wirklichkeit, individuellem Interesse und allgemeiner Maxime. Der Trampelpfad ignoriert die juristische Realität abstrakter Eigentumsverhältnisse. Der Trampelpfad bildet sich durch die Überlagerung paralleler (aber nicht zwangsläufig gemeinsamer oder verallgemeinerbarer) Interessen; er setzt voraus, dass die Möglichkeit eines Weges, (der zu einem Ziel führt) wahrgenommen wird; er entsteht da, wo einige die gemeinsame Aufgabe (einen Weg zu beschreiten) erkennen; er entsteht da, wo der einzelne den Weg sieht, den es noch nicht gibt, und da, wo er den gesehenen Weg beschreitet, ohne zu fragen, ob er existiert. Deshalb ist jeder Trampelpfad ein Zeichen der Überschreitung. Er entsteht, wo jemand nicht wartet, bis ihm die Aufgabe gezeigt wird, sondern aus der Wahrnehmung von Möglichkeiten heraus die Erkenntnis der Aufgabe als Teil der Aufgabe erkennt.
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